Waltraud Joa
Beauftragte der Stadt Marktoberdorf für Menschen mit Handicap
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Alles eine Sache des Blickwinkels

Erstellt von W. Joa |

Marktoberdorf „Oh, die Joa." Das war lange ein geflügeltes, nur geflüstertes Wort, wenn sich Waltraud Joa Mitte der 1990er Jahre im Stadtrat von Marktoberdorf zu Wort meldete. Denn meist drängte sie darauf, bei Baumaßnahmen die Bedürfnisse Behinderter nicht zu vergessen. Jedes Mitglied im Gremium wusste sofort: Das treibt die Kosten hoch. Aber Joa setzte sich in den meisten Fällen durch. Ihre Argumente überzeugten eben. Inzwischen ist das, was Joa einst sehr mühsam einfordern musste, oft selbstverständlich. In Marktoberdorf und weit darüber hinaus. Für ihr jahrzehntelanges, beispielhaftes ehrenamtliches Engagement erhält sie nun die Silberdistel unserer Zeitung.
Nie hat Waltraud Joa mahnend den Finger erhoben. Sie nimmt die Menschen vielmehr mit, ändert deren Blickwinkel, schildert das, was nicht funktioniert, aus ihrer Perspektive. Aus der Sichtweise der Behindertenbeauftragten, die sie für die Stadt seit vielen Jahren ist und die sie für den Landkreis Ostallgäu lange war. Die gebürtige Marktoberdorferin gehört zur Kriegsgeneration, ist 1943 geboren. Mit neun Jahren erkrankte sie an Poliomyelitis, kurz Polio oder Kinderlähmung genannt, weil das Virus meist Kinder unter fünf Jahren befällt. Es greift das Zentralnervensystem an und schädigt es oft massiv. Waltraud Joa hatt damals schon mit Einschränkungen zu kämpfen. Dass sie benachteiligt war, . zeigte sich spätestens, als sie in Stötten eingeschult werden sollte. Damals war Teilhabe noch ein Fremdwort. Die Versuche der Inklusion scheiterten, sie kam ins Josefinum in Augsburg, wo sie besser gefördert werden konnte. Erst mit acht Jahren begann Joa das erste Schuljahr, nahm das zweite im gleichen Aufwasch mit, übersprang die dritte Klasse und hatte in der vierten die meisten wieder eingeholt. ,,Ich war schon immer ein Spätzünder", sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Immer wieder sieht man sie lächeln. Mürrisch sein, sich in ihr Schicksal ergeben, das war nie ihr Ding. Anpacken und etwas bewegen, lautet ihre Maxime. ,,Wenn ich arbeite und helfen kann, vergesse ich mein Handicap. Das ist mein Motor. Ich brauche das." Geholfen hat sie wahrlich viel - und macht es immer noch. Inzwischen aus dem Rollstuhl heraus. Laufen kann sie seit ein paar Jahren nicht mehr. Auch in ihrer beruflichen Tätigkeit bei der damaligen Allgäuer Alpenmilch in Biessenhofen (heute Nestle) hielt es sie nicht lange an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz. Sie trat in die Gewerkschaft ein. So setzte sie sich auch nach ihrer Rückkehr nach Biessenhofen - zwischenzeitlich hatte sie ihren Mann, Berufssoldat und große Stütze in ihrem Leben, nach Sardinien und Memmingen begleitet - als Betriebsrätin für ihre Kolleginnen und Kollegen ein. Dabei war sie sozialdemokratisch und vor allem durch die Reden von Willy Brandt geprägt, erzählt sie. Später trat sie in die SPD ein. Wobei schon in ihrem Elternhaus viel politisiert und mit den sechs Geschwistern oft lebhaft diskutiert wurde. Bereits da zeigte sich: ,,Ich bin für klare Worte. Dann kommt auch viel Klares zurück." Und das helfe am Ende allen. Denn Behinderte wollten „keinen Vorteil", sondern nur einen Nachteilsausgleich", sagt sie. Es geht um Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Daher sollte ein Mensch mit Handicap etwa beim Konzert oder im Schwimmbad den gleichen Eintritt bezahlen. Wenn er aber eine Begleitperson haben muss, sollte diese frei sein. ,,Das ist Nachteilsausgleich" am einfachen Beispiel.
Dass die Materie viel komplizierter ist, weiß sie nur zu gut. Spätestens seit ihren Gesprächen in den bayerischen Ministerien. Zwei- bis dreimal pro Woche musste Joa als damalige stellvertretende Landesvorsitzende der Vereinigung Kommunnaler Interessenvertreter von Menschen mit Behinderung in Bayern, kurz VKIB, nach München. Dort beackerte sie die Felder Bauwesen, Arbeit und Tourismus. Warum kann bei einem Neubau die Dusche nicht gleich so eben sein, damit jemand mit Rollstuhl oder Rollator hineinkommt? Warum können Bordsteinkanten nicht grundsätzlich bei Übergängen abgeschrägt sein? Warum gibt es bei schweren Türen bei öffentlichen Einrichtungen nicht überall Druckknöpfe oder Bewegungsmelder, um sie zu öffnen? Vorausschauend zu planen, spart später Umbaukosten, sagt Joa, und ist eine Erleichterung für alle: für Menschen mit Behinderung, für Ältere, für Eltern mit Kinderwagen. Deshalb spricht Joa nicht von behindertengerecht, sondern von barrierefrei. So, wie es auch dank ihrer Initiative das Marktoberdorfer Hallenbad ist. Barrierefreiheit sei nur gemeinsam zu schaffen.
Dazu braucht es aber Antreiber und Augenöffner wie Waltraud Joa. Sie hat in ihrem Bereich für einen Wandel in der Denkweise gesorgt. Deshalb ist der Ausspruch „Oh, die Joa" inzwischen eine tiefe verbale Verbeugung vor der Bundesverdienstkreuzträgerin.

 

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Seit Jahrzehnten setzt sich Waltraud Joa für die Belange Behinderter ein. Eigentlich ist das ein Ganztagsjob, sie aber macht es ehrenamtlich. Dafür erhält die Marktoberdorferin die Silberdistel unserer Zeitung.